Träger des Hauptpreises 2021:
Olaf Altmann

Trägerin des Förderpreises 2021:
Sabrina Rox 




Die Verleihung des Hein-Heckroth-Bühnenbildpreises fand am
19. September 2021 im Stadttheater Gießen statt.


begrüssung

Dr. Marcus Kiefer
Vorsitzender der Hein-Heckroth-Gesellschaft

Sehr geehrter Herr Regierungspräsident!

Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin!

Verehrte Ehrengäste und insbesondere verehrter lieber Herr Altmann!

Liebe Mitglieder und Freunde der Hein-Heckroth-Gesellschaft!

Zum zehnten Mal vergeben wir heute den Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis als Auszeichnung und Impuls für eine herausragende Künstlerpersönlichkeit. Zum zwanzigsten Mal jährt sich in diesen Tagen die Gründung der Hein-Heckroth-Gesellschaft Gießen e. V. Die heutige Preisverleihung geht also mit einem Doppeljubiläum einher, über das wir uns freuen dürfen.

Vor gut zwanzig Jahren wurde der Gedanke geboren, Hein Heckroth zum Namensgeber eines Theaterpreises zu machen, dessen Alleinstellungsmerkmal in der Fokussierung auf das Bühnenbild besteht. Diese Idee stieß in Gießen – das soll hier nicht verschwiegen werden − nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf mancherlei Unverständnis und Abwehr. Damals hätte nicht einmal Dietgard Wosimsky, die Erfinderin des Heckroth-Preises und Gründungsvorsitzende der Heckroth-Gesellschaft, zu träumen gewagt, dass wir im Jahr 2021 den Heckroth-Preis zum zehnten Mal vergeben und auf eine illustre Reihe verdienter Preisträger zurückblicken, die – so wesensverschieden sie sein mögen – in der Auswahl und Summe Grundsätzliches zu erkennen geben über das Bühnenbild als „Mitspieler“ in Theateraufführungen der jüngeren und jüngsten Zeit.

Doppelter Grund zur Freude also! In dieser Freude heiße ich Sie auf das Herzlichste willkommen. 

Ein besonders herzlicher Gruß gilt Herrn Olaf Altmann, der heute mit dem Hauptpreis geehrt wird. Aus der Ferne, aber nicht minder herzlich grüße ich Frau Sabrina Rox, unsere Förderpreisträgerin, die ihre Teilnahme am Festakt leider kurzfristig absagen musste.

Die meisten Biographien sind durch einen vorgegebenen Ort bestimmt. Bevor er den Radius seines Wirkens beträchtlich ausgeweitet hat, war für Olaf Altmann vor allem das sächsische Chemnitz von größter Bedeutung – zunächst in dem ganz basalen Sinne, dass er dort geboren wurde. Auf den Ortsschildern stand damals „Karl-Marx-Stadt“. In Chemnitz hat Olaf Altmann auch den Grundstein für seine Theaterlaufbahn gelegt: An den Städtischen Theatern Chemnitz vollzog er die Metamorphose vom Bühnentechniker zum Bühnenbildner – und zwar als Autodidakt!

Der Namenspatron des heute vergebenen Theaterpreises, Hein Heckroth, war als Bühnenbildner ebenfalls Autodidakt, und zu den Orten, an denen Heckroth gearbeitet hat, gehört – nota bene – auch Chemnitz. Am Opernhaus in Chemnitz, das damals einen Platz in der ersten deutschen Opernliga einnahm, hat der gebürtige Gießener im Jahr 1932 ein Gastengagement wahrgenommen. Chemnitz, zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus kulturpolitischen Gründen zum „Bayreuth Sachsens“ erklärt, engagierte Hein Heckroth, um ein zeitgenössisches Bühnenwerk auszustatten: „Die verlassene Ariadne“ von Darius Milhaud. 

Noch in reinen Zufällen suchen wir nach Spuren sinnvoller Fügungen. Daher gefällt mir die Vorstellung, dass Hein Heckroth 1932 – bevor ihn die Ungunst der historischen Stunde ins Exil trieb – in einer Theaterstadt arbeiten durfte, in der Olaf Altmann Jahrzehnte später sein szenografisches Denken und seine höchst eigenständige Bühnenästhetik entwickelt hat. Doch meine Aufgabe ist es nicht, Verbindungsfäden zwischen Hein Heckroth und dem Heckroth-Preisträger Olaf Altmann zu ziehen. Meine Aufgabe ist viel einfacher: Ich darf Sie zu dieser Preismatinee begrüßen. 

So begrüße ich für das Land Hessen Herrn Regierungspräsidenten Dr. Christoph Ullrich als persönlichen Vertreter des Ministerpräsidenten Volker Bouffier. Herr Dr. Ullrich, ich freue mich, dass Sie zu uns gekommen sind und nicht nur den Ministerpräsidenten vertreten, sondern auch die Spitze des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. 

Wenn der Heckroth-Preis verliehen wird (zuerst 2003, zuletzt 2019), steht das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst immer ganz oben auf unserer Danksagungsliste – so auch heute. Die Hein-Heckroth-Gesellschaft dankt Frau Staatsministerin Angela Dorn sehr herzlich dafür, dass sie den Hauptpreis erneut mit 10.000 Euro dotiert hat.

Nicht nur, weil das zum Ritual gehört, vielmehr in aufrichtiger Freude danken wir der Stadt Gießen für die Dotierung des Hein-Heckroth-Förderpreises mit 5.000 Euro. 

Sehr herzlich begrüße ich die Oberbürgermeisterin der Universitätsstadt Gießen, Frau Dietlind Grabe-Bolz. Bei Ihnen, liebe Frau Grabe-Bolz, darf ich es freilich nicht bei dem Dank für Ihr Kommen am heutigen Tage belassen, sondern muss – angesichts Ihres nahen Ausscheidens aus dem Amt – dankbar bekunden, dass Sie der Hein-Heckroth-Gesellschaft in zwei Amtszeiten als Oberbürgermeisterin stets gewogen und verbunden waren – nicht nur durch wohlwollendes Wort, sondern durch fördernde Tat.

Wir freuen uns sehr, dass auch der Leiter des Kulturamtes der Stadt Gießen, Herr Dr. Stefan Neubacher, hier sein kann.

Erlauben Sie mir nun, weitere Ehrengäste willkommen zu heißen: zunächst Herrn Direktor Hans-Heinrich Bernhardt, Vorstandsmitglied der Volksbank Mittelhessen, den ich mit herzlichem Dank für die Unterstützung unserer Preisverleihung durch seine Bank in unserer Mitte willkommen heiße. Für großzügige finanzielle Förderung haben wir ebenso herzlich der Sparkasse Gießen zu danken, die in diesem Saal heute nicht vertreten ist.

Zur Durchführung dieser Preismatinee gewährt uns das Stadttheater Gießen erneut Gastrecht in seinen Räumen. Der Intendantin Cathérine Miville und dem Geschäftsführenden Direktor Dr. Martin Reulecke entbiete ich einen herzlichen Gruß und aufrichtigen Dank für viele Jahre der Unterstützung. 

Matineen – oder wie sie früher hießen: Morgenfeiern –, die in Theatern veranstaltet werden und bevorzugt sonntags um 11 Uhr beginnen, waren in ihren Anfängen eine säkulare Alternative zum sonntäglichen Kirchgang. Dazu gehört Musik, und deshalb freue ich mich, den mit vielen Preisen bedachten Cellisten László Fenyö begrüßen zu dürfen. 

Als besonders herausgehobenen Gast begrüße ich den Intendanten des Berliner Ensembles, Herrn Oliver Reese, dem heute die Aufgabe zukommt, dem Bühnenbildner Olaf Altmann öffentliche Anerkennungsgerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem er ihn rückhaltlos lobt. Auf Oliver Reeses Laudatio zu Ehren des Preisträgers freue ich mich ganz besonders. Aus meiner Sicht handelt es sich um das Kernstück dieser Veranstaltung. Denn ohne eine Lobrede, die aus ehrlicher Überzeugung und echter Begeisterung gehalten wird und deren Enthusiasmus das Publikum ansteckt, wäre eine Feierstunde wie die heutige ein leeres Ritual.

Lieber Herr Reese, für die Heckroth-Gesellschaft ist es eine große Ehre, dass Sie heute aus Berlin gekommen sind, um Olaf Altmann für das, was er ist und was er tut, zu loben. Dafür darf ich Ihnen schon jetzt in unser aller Namen herzlich danken.

Es ist mir eine Freude, Herrn Mathias Bleier aus Dresden zu begrüßen, der heute den Hein-Heckroth-Förderpreis 2021 für seine aus gesundheitlichen Gründen verhinderte Frau Sabrina Rox entgegennehmen wird. Wir senden Ihrer Frau von dieser Stelle die allerbesten Genesungswünsche.

Ich begrüße sehr herzlich Frau Professorin Dr. Sigrid Ruby, die an der Justus-Liebig-Universität Gießen das Fach Kunstgeschichte vertritt. Frau Dr. Ruby hat die schöne Aufgabe übernommen, in dieser Feierstunde den Namensgeber unseres Preises, Hein Heckroth, mit seinem künstlerischen Werk in einem bedeutenden Ausschnitt zu vergegenwärtigen. Unter dem Titel „Hein Heckroth – Surrealismus und Exil“ befasst sie sich mit dem Surrealisten Heckroth wohl auch unter realitätsbezogenen Aspekten.

Es ist mir eine besondere Freude, dass Hein Heckroths Enkel Jodi Routh nach Gießen gekommen ist, um Teil dieser Festversammlung zu sein.

In einer Feierstunde grübelt man nicht, nicht einmal im Pandemiejahr 2021! Aus Freude über alle, die hier im Saal anwesend sind und das Theater lieben, sehen wir daher geflissentlich darüber hinweg, dass die Sitzreihen bei dieser zehnten Preisverleihung wegen des Pandemiegeschehens und der behördlichen Auflagen wesentlich dünner besetzt sind, als wir es gewohnt sind. Ungewohnt ist auch, dass der traditionelle Sektempfang, zu dem wir Sie im Anschluss an den offiziellen Festakt gerne eingeladen hätten, nicht stattfinden darf.

Im zwanzigsten Jahr des Bestehens der Heckroth-Gesellschaft möchte ich wenigstens kursorisch die Erinnerung an jene Theatermenschen wachrufen, die bei unseren Preisverleihungen das Publikum stark beeindruckt und dankbar gestimmt haben: 

· als Preisträger Erich Wonder, Karl-Ernst Herrmann, Achim Freyer, Robert Wilson, Christoph Schlingensief, Anna Viebrock, Bert Neumann, Gero Troike und Katrin Brack

· als Laudatoren Heiner Goebbels, Hermann Beil, Elisabeth Schweeger und René Pollesch – um nur wenige zu nennen –

· und als Darsteller und Musiker Angela Winkler, Rosemary Hardy, Sophie Rois und viele mehr.

Mit ihren Preismatineen leistet die Hein-Heckroth-Gesellschaft somit einen Beitrag dazu, dass die Stadt Gießen auch überregional als Theaterstadt wahrgenommen wird. Wie es scheint, war das nicht immer selbstverständlich. Mein Gewährsmann dafür ist kein Geringerer als der Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal, der bekanntlich zu den Vätern der Salzburger Festspielgründung gehört. 

Im Juli 1929 veröffentlichte Hofmannsthal einen Artikel über das Publikum der Salzburger Festspiele. Die besondere Charakteristik des Salzburger Festspielpublikums sei – so Hofmannsthal wörtlich – die „hoch eigentümliche Zusammensetzung aus großstädtischen und ungroßstädtischen“ Gästen. Ich zitiere Hofmannsthal: „Ich sage ungroßstädtisch und würde mich aufs äußerste scheuen, das Wort provinziell zu gebrauchen – um eines Nebenklanges willen, der mir durchaus nicht erwünscht wäre –, und ebensowenig schiene mir das Wort ländlich am Platze. Aber wenn ich mich der vielen Begegnungen mit Zuschauern erinnere, die eben ihr Leben in ungroßstädtischer Sphäre verbringen und die nach Salzburg kommen und vielleicht in dieser einzigen Woche im Jahr Theater und hohes Theater sehen wollen, so bedarf ich eines Ausdruckes, um sie zusammenzufassen: der Gutsbesitzer aus Oberösterreich oder aus Mecklenburg, der Ordenspriester aus Maria Laach oder aus Beuron, der Professor aus Gießen oder aus Greifswald, der Landpfarrer aus dem Lungau oder aus Oberfranken, der Handwerksmeister aus Steyr und der Gerichtsrat aus Gera […] .“

Obwohl das Stadttheater Gießen bereits im Jahr 1907 eröffnet wurde, erwähnt Hofmannsthal zu Ende der zwanziger Jahre den Gast aus Gießen als Exempel für den Theaterfreund, der seinen Theaterhunger unbedingt in Salzburg stillen musste! Wieviel sich seit jener Zeit im Stadttheater Gießen geändert hat, zeigt der Blick auf die Gegenwartslage dieses Dreispartenhauses, dessen Angebot ambitioniert, umfangreich und vielfältig ist. 

Die ehrenamtliche Arbeit der Heckroth-Gesellschaft leistet, bei aller Bescheidenheit, einen Beitrag dazu, dass Gießen heute keineswegs als eine theaterferne Sphäre wahrgenommen wird.

Aber auch für die Arbeit der Heckroth-Gesellschaft gilt: Nichts ist so gut, dass es nicht noch besser werden könnte. Daher meine Bitte: Unterstützen Sie die Arbeit der Heckroth-Gesellschaft! 

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, unsere Vereinstätigkeit zu fördern. Die üblichen sind: Mitglied zu werden oder zu spenden. Jedes neue Vereinsmitglied ist herzlich willkommen!

Fürs Erste aber heiße ich Sie alle – Mitglieder und Nicht-Mitglieder oder besser: Noch-nicht-Mitglieder – zum wiederholten Mal herzlich willkommen.

Jetzt bitte ich in Vorfreude auf einen hoffentlich reibungslos verlaufenden Festakt den Herrn Regierungspräsidenten auf die Bühne!


Grusswort

Dr. Christoph Ullrich
Regierungspräsident des Regierungsbezirks Gießen

Sehr geehrter Herr Dr. Kiefer,

sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Grabe-Bolz,

sehr geehrte Preisträger und Ehrengäste, 

meine verehrten Damen und Herren,

zunächst darf ich Ihnen die herzlichsten Grüße von Herrn Ministerpräsident Bouffier überbringen, der heute gerne bei Ihnen gewesen wäre, jedoch aufgrund terminlicher Verpflichtungen verhindert ist. Er bat mich, ihn heute hier zu vertreten. Ebenso darf ich die Grüße des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst übermitteln. 

Gerne bin ich zu Ihnen gekommen, um Ihnen gegenüber meine Wertschätzung auszudrücken. Wie kaum andere haben Sie unter den Einschränkungen der mittlerweile eineinhalb Jahre anhaltenden Corona-Pandemie gelitten und leiden weiterhin.

Mit dieser Preisverleihung ehren wir heute einen großen Mittelhessen – Hein Heckroth. Diese Region war seine Heimat.

Mittelhessen ist geprägt von einer starken Wirtschaft, herausragenden Hochschulen und einer reichen Kultur. Ich sage oft: eine Bildungs- und Wirtschaftsregion mit Kultur.

Hein Heckroth steht damit in einer Reihe mit Namen wie Emil von Behring, Georg Büchner, Johann Wolfgang von Goethe, Moritz Hensoldt, Hedwig Jahnow, Ernst Leitz, Justus von Liebig, Wilhelm Liebknecht, Wilhelm Conrad Röntgen oder Friedrich Carl von Savigny, die allesamt aus Gießen stammten, hier lebten oder wirkten.

Für mich stand Hein Heckroth in meiner Gießener Studentenzeit zuerst für eine Straße, mit deren Namensgeber ich mich nicht beschäftigt habe. Juristische Professuren, unter anderem die meines Doktorvaters, hatten dort ihren Sitz. Aber der Name hat sich verfangen.

Setzt man sich mit der Person Hein Heckroth dann aber auseinander, erkennt man einen wandelbaren Künstler, einen der großen Namen seiner Zunft, der dem Film – vor allem aber auch dem Theater – seinen Stempel aufgedrückt hat.

Das Theater ist eine der ältesten Kulturleistungen der Menschheit. Es ist Kunst. Jüngst habe ich in der Einladung zur nächsten Ausstellung des Weilburger Rosenhang Museums gelesen: „Kunst ist für mich das Eintauchen in eine andere faszinierende und geheimnisvolle Welt. Kunst ist wie eine Reise, das Ausbrechen aus dem Alltag in das Besondere und das Einmalige.“

Wie kaum ein anderer Ort ist das Theater aber auch ein Ort der Vergegenwärtigung, wie es Altbundespräsident Horst Köhler einmal ausdrückte. Indem wir in dieser Kunst viele alte Stücke aufführen, vergewissern wir uns unserer eigenen Geschichte und unserer kulturellen Vergangenheit. Gleichzeitig aber vergewissern wir uns der Haltbarkeit, der Tragfähigkeit und der Aktualität dieses historischen Erbes. In zeitgenössischen Inszenierungen setzen wir diese Stücke dem heutigen Zeitgeist aus.

Allzu oft stehen im Theater, aber auch im Film und Fernsehen, die Schauspielerinnen und Schauspieler, die Regisseure und Intendanten im Mittelpunkt. Vergessen wir aber nicht diejenigen, die dieser Kunst durch ihre Kunst ein Bild verleihen. Vergessen wir nicht die Menschen, die eine Requisite herstellen, die das Bühnenbild bauen. Diesem Auftrag fühlt sich unsere Gießener Hein-Heckroth-Gesellschaft verpflichtet, indem sie alle zwei Jahre Bühnenbildnerinnen und Bühnenbildner auszeichnet.

Die Hein-Heckroth-Gesellschaft wahrt und pflegt das künstlerische Erbe Hein Heckroths – eines bedeutenden Gießeners und Mittelhessen. Dieses Erinnerungswerk leisten Sie mittlerweile seit 20 Jahren. Es ist heute ein Jubiläum – die zehnte Preisverleihung.

Auch bei der nun zehnten Verleihung heben Sie wieder eine Preisträgerin und einen Preisträger hervor, die bereits durch ihre Kunst von sich haben reden lassen und es in Zukunft auch noch tun werden.

Olaf Altmann: Er ist ein freischaffender Bühnenbildner, der an fast allen großen Bühnen unseres Landes gewirkt hat – Hamburg, Dresden, Köln, Frankfurt oder Berlin. Sabrina Rox: In ihrer engen Zusammenarbeit mit dem Regisseur Jan Gehler leistet sie Großes – vor allem auch im so zukunftsträchtigen Kinder- und Jugendtheater.

Auch wenn die Kunst des Theaters sich immer weiterentwickelt und auch neu erfindet, so ist die Reichweite in der Gesellschaft leider nicht vergleichbar mit der des Films oder des Fernsehens. 

Aber auch hier entfaltet die Bühnenbildnerin, der Bühnenbildner seine Kunst. Er nimmt uns mit in Szenerien, in Räume, in denen sich das Leben entfalten kann.

Aus der Mitte Hessens heraus, der Mitte Deutschlands und der Mitte Europas geben Sie den Kunst- und Kulturschaffenden einen Raum, der wie die Kunst selber grenzenlos ist.

Als Gießener Regierungspräsident bin ich stolz auf unser Mittelhessen und das, was wir dort auch in der Kultur schaffen. 

Ich danke Ihnen aufs Herzlichste für die Einladung und die Arbeit, die Sie alle für die Kunst und Kultur leisten. Halten Sie fest an Ihrem Schaffen und der Erinnerung an das Werk Hein Heckroths.

Danke für die Aufmerksamkeit! 


GRUssWORT

Dr. Martin Reulecke
Geschäftsführender Direktor am Stadttheater Gießen

Guten Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Im Namen des Stadttheaters Gießen und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter möchte ich Sie herzlich willkommen heißen.

Viel zu lang war unser Theatersaal nicht für Publikum geöffnet, und so ist es eine besondere Freude, Sie alle hier zu sehen – natürlich mit dem gebotenen Abstand oder, positiv ausgedrückt, mit behutsam austarierter Nähe.

Noch im Frühjahr war ja gar nicht daran zu denken, diese traditionsreiche Veranstaltung überhaupt stattfinden zu lassen – so gesehen sind wir doch gemeinsam auf einem guten Weg, die Kultur- und Theaterräume nach und nach zurückzuerobern, sie vielleicht auch nach der ungewohnten Abstinenz ganz neu zu entdecken.

Ich gratuliere der Hein-Heckroth-Gesellschaft herzlich zum runden Geburtstag – sie besteht nun schon ein Fünfteljahrhundert – und wünsche Ihnen und uns allen eine schöne Feierstunde!


HEIN HECKROTH – SURREALISMUS UND EXIL

Prof. Dr. Sigrid Ruby
Justus-Liebig-Universität Gießen

Verehrte Festgesellschaft!

In Hein Heckroths Karriere ist der Ballettspielfilm „Die roten Schuhe“ (Originaltitel: „The Red Shoes“, 1948) sicherlich sein größter Erfolg. 1946 hatte er von der britischen Produktionsfirma The Archers die künstlerische Leitung für diesen Film übertragen bekommen. 1949 wurde Heckroth mit einem Oscar für das beste Szenenbild („Best Art Direction“) im Farbfilm prämiert.[1]

„Die roten Schuhe“ erzählt die Geschichte einer aufstrebenden Ballerina namens Vicky Page, die zu dem berühmten Tanzensemble unter Impresario Boris Lermontov stößt und zusammen mit dieser internationalen Truppe große Erfolge feiert. Erzählerischer und künstlerischer Höhepunkt des Films ist die nahezu 15-minütige Sequenz, in der Vicky in roten Ballettschuhen tanzt. Sie tanzt vor und durch fantastische Kulissen, scheint vor Farbschlieren zu schweben und von Farbstrudeln erfasst, springt durch Nebelschwaden vor farbgewaltigen Traumlandschaften und trifft auf furchterregende Mischwesen, mit denen sie sich in unterschiedlichen Formationen vereinigt. Die Sequenz endet mit dem Tod der Ballerina, nachdem man ihr die roten Schuhe von den Füßen genommen hat. Erst in diesem Moment fällt den Zuschauenden wieder ein, dass es sich bei dem Tanz um eine Ballettaufführung im Film handelt bzw. um einen Film im Film, der danach sowohl erzählerisch als auch ästhetisch eher konventionell weiter voranschreitet.

In der Filmerzählung geht es um die Forderung nach bedingungsloser Hingabe an die Kunst – ein Anspruch, an dem Vicky schließlich scheitern wird. Die roten Schuhe sind hier das zentrale, höchst ambivalente Motiv. Wie in dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen (1845) haben sie Macht über die Tänzerin, sie führen sie und treiben sie voran, lassen ihr keine Ruhe, zwingen zum Tanz, ermöglichen ihn aber auch erst in seiner ganzen Leichtigkeit, Eleganz und Bedingungslosigkeit. Vicky überlässt sich den roten Schuhen, sie gibt sich der Musik und dem Tanzen, ihren Träumen, Sehnsüchten und Ängsten hin. Sie schaltet den Kopf und jeden eigenen Willen aus, um einer höheren Instanz die Führung ihres Körpers zu überlassen. In und mit den roten Schuhen wird Vicky Page zu einem schönen weiblichen Automaten.[2]

Mit Automaten und dem Automatismus ist auch eine künstlerische Praxis des Surrealismus adressiert, die in den frühen 1920er Jahren insbesondere André Breton propagierte, und zwar mit expliziter Bezugnahme auf die psychoanalytischen Studien Sigmund Freuds. Wiederholt eingefordert und erprobt wurde fortan ein automatisches Schreiben oder Malen (écriture / peinture automatique), das sich der Kontrolle der Vernunft und den tradierten Regeln der Komposition entzieht und stattdessen – nachgerade programmatisch – das Unbewusste zur Entfaltung bringt. Im Unbewussten erkannten die frühen Surrealisten denjenigen Teil der menschlichen Existenz, der in einer zunehmend rational, funktional und technizistisch dominierten Welt vernachlässigt, unterdrückt und verdrängt werde und dessen Befreiung und Aufwertung als wesentliches Mittel der Moderne-Kritik dienen könne.

Hein Heckroth war 1946 die ideale Besetzung für die künstlerische Ausgestaltung von „Die roten Schuhe“. Damals war er, wenngleich schon am Set von The Archers beschäftigt, auch und vor allem ein surrealistischer Maler, der offenbar gleich verstand, dass das von den roten Schuhen sowohl herbeigeführte als auch ermöglichte freie Tanzen der Ballerina nach einer außergewöhnlichen, nicht-naturalistischen Gestaltung und Umgebung verlangte. Heckroths Entwürfe sollten das Filmpublikum in eine von Raum und Zeit entgrenzte Fantasiewelt entführen und so die unbewusste Triebfeder von Vickys Tun, ihre sonst unter der schönen Oberfläche verborgenen Gefühlsregungen und Bedürfnisse, erahnbar machen.

Wie und wann Hein Heckroth ein surrealistischer Maler wurde, sei im Folgenden skizziert. Die Forschung dazu steht noch ganz am Anfang. Mit der Machtergreifung Hitlers war die Karriere Hein Heckroths in Deutschland – zumindest vorerst – beendet. Er und seine jüdische Ehefrau, die Malerin Frieda Diana Maier, genannt Ada (1902-1994), verbrachten die gesamte Zeit des Nationalsozialismus im Exil. Ada Heckroth übersiedelte schon Anfang 1933 nach Paris, wo sie bei dem Kunstkritiker, Journalisten und Schriftsteller Carl Einstein und dessen Frau Lyda Guévrékian Aufnahme fand und fortan mit diesen in einem Haushalt zusammenlebte.[3] Hein Heckroth selbst war zunächst, 1933/34, als Kostümbildner und Bühnenausstatter der in Essen aufgelösten Ballettkompanie von Kurt Jooss (Ballets Jooss) auf einer Tournee in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und den Vereinigten Staaten.[4] Anschließend ließ er sich ebenfalls in Paris nieder und suchte dort ein Auskommen als freier Maler.

Die Erfahrung des Exils war in den 1930er und 40er Jahren für Hein Heckroth und viele andere Surrealisten ein wesentlicher Motor der künstlerischen Arbeit. Entwurzelt zu sein und sich neu arrangieren zu müssen, das Gefühl des Fremdseins und des Verlusts, abgerissene Bindungen und gebrochene Biografien – all das förderte die Ablehnung herkömmlicher künstlerischer Praktiken und Regeln. Die Exil-Erfahrung stimulierte das Interesse am Zufall, am Fragmentarischen und Collagierten, die Hinwendung zu inneren Welten als Ressourcen des Subjekts, zu Fantasien und Erinnerungen, zum Unbewussten, zu Träumen und Traumata als den großen Themen und Strategien des Surrealismus. Dieser zielte nachgerade programmatisch auf eine Realität jenseits bzw. über einer einseitig vernunftbasierten Wirklichkeit, und diese „Über-Realität“ (surréalité) sollte in und mittels der Kunst erfahrbar werden.

In Paris muss Heckroth intensiv mit der surrealistischen Kunstbewegung und ihren gestalterischen Ansprüchen in Berührung gekommen sein, vor allem über den ihm auch im privaten Leben verbundenen Carl Einstein. Dieser publizierte unter anderem in dem von Georges Bataille, Georges Wildenstein und Einstein selbst 1928 gegründeten Magazin Documents. Emphatisch hatte Einstein 1929 ‒ und zwar in einer kritischen Auseinandersetzung mit künstlerischen Arbeiten von André Masson ‒ über „halluzinatorische Kräfte“ geschrieben, die „eine Bresche in die Ordnung mechanischer Abläufe [schlagen]; sie schieben ‚a-kausale‘ Blöcke in diese Realität, die man absurderweise für die einzig bestehende hält. Das gleichmäßige Gewebe dieser Realität reißt auf, und man lebt in der Spannung der Dualismen […].“[5] Einstein plädierte für eine Vorherrschaft des Imaginativen, des Traums und der Fantasie in der Kunst – zulasten der Logik und ihrer Gesetze.[6]

In Paris traf Heckroth wohl auch Max Ernst, Jankel Adler, Kurt Schwitters und andere dem Surrealismus nahestehende, mehrheitlich im Exil lebende Künstler. Vielleicht noch in Frankreich entstand sein abstraktes Gemälde „Clown mit Zweimaster“, unter Umständen in Anspielung auf Heckroths eigene nomadische Existenz.[7] 1935 zog das Ehepaar von Paris nach London, wo Heckroth auf Einladung von Kurt Weill dessen Musical „A Kingdom for a Cow“ am Savoy Theatre (UA 28. Juni 1935) ausstatten konnte. Wenig später trat er eine Tätigkeit als Dozent an der privaten Kunstschule Dartington Hall bei Totnes (Grafschaft Devon) an, wo im September 1935 auch Kurt Jooss und seine Ballett-Truppe die Chance auf einen Neuanfang erhielten.[8]

Im Sommer des Folgejahres fand in den privat geführten New Burlington Galleries in London die umfangreiche International Surrealist Exhibition statt.[9] Sie stieß auf breite Aufmerksamkeit, wurde intensiv besucht und gab der modernen Kunst in England nachhaltige Impulse.[10] Dass Heckroth diese Ausstellung und die sie begleitenden Vorträge (u. a. von André Breton und Salvador Dalí) besuchte, lässt sich nicht nachweisen, ist aber wahrscheinlich, zumal er offenbar im Kontakt mit Roland Penrose und Herbert Read stand, die zu den maßgeblichen Initiatoren der Ausstellung zählten.[11] Die International Surrealist Exhibition 1936 könnte den Maler Heckroth in seiner künstlerischen Entwicklung bestärkt haben. Mehrere Arbeiten aus den Jahren 1939/40 bezeugen eine deutliche Hinwendung zur surrealistischen Ikonographie und Ästhetik.

Aus dem Jahr 1939 haben sich beispielsweise zwei relativ große, feinmalerisch ausgeführte Hochformate erhalten: eine Erinnerung an die hessische Heimat (Abb. 1) und ein Porträt des seinerzeit prominenten britischen Politikers Basil Henry Liddell Hart (1895-1970) (Abb. 2). Beide Gemälde zeigen karge Landschaften mit niedrigem Horizont und rätselhaft arrangierten Objekten. Über der „hessischen Landschaft“ schwebt eine übergroße, gläsern wirkende Kugel, die unterschiedliche Motive und Räumlichkeiten in sich birgt und im Rund miteinander verknüpft. Im Porträt wiederum greift der Maler die Form der skulptierten Büste auf, um deren Sockel herum er diverse Gegenstände und Fragmente, insbesondere menschliche Körperteile, anordnet, die vermutlich auf die Funktion Basil Harts als ranghoher Offizier und Geheimdienstler verweisen.[12] Auch hier findet sich eine Glaskugel, die einen Erdball in sich einschließt. Heckroth malte diese fantastischen Szenerien in einem veristischen Stil, der maßgeblich dazu beiträgt, dass uns diese unheimlichen Nachbarschaften und im Wortsinn „ver-rückten“ Größenverhältnisse vertraut und befremdlich zugleich erscheinen.

1  Hein Heckroth, Schwebende Kugel über hessischer Landschaft (Erinnerung an Oberhessen), 1939, Öl auf Pappe, 68 × 55,5 cm, Museumslandschaft Hessen Kassel, Neue Galerie

2  Hein Heckroth, Sir Basil Henry Liddell Hart, 1939, Öl auf Karton, 76,8 × 51,4 cm, London, National Portrait Gallery

Für Heckroths Arbeiten lassen sich vielfältige, im Detail sicher noch genauer zu untersuchende Ähnlichkeiten mit anderen surrealistischen Positionen aufzeigen. Ein gutes Vergleichsbeispiel für die Art der Landschaftsauffassung ist das Werk des deutschen Malers Edgar Ende (1901-1965), der im gleichen Jahr wie Hein Heckroth geboren wurde, aber während der NS-Zeit in Deutschland blieb.[13] Auch bei Ende finden wir leere Landschaftsräume und rätselhaft darin auftretende bzw. agierende Figuren, doch arbeitete er zumeist mit kräftigeren Farben und weniger detailverliebt als Heckroth. Beispielhaft sei hier auf sein Gemälde „Unter der Konsole“ von 1933 verwiesen, heute im Besitz des Frankfurter Städel Museums.[14]

Aufschlussreich ist auch der Vergleich von Heckroths Bildnis des Basil Henry Liddell Hart mit Salvador Dalís kleinformatigem Porträt des surrealistischen Dichterfreunds Paul Éluard aus dem Jahr 1929.[15] Bei allen Ähnlichkeiten erscheint Heckroths Formgestaltung kompakter und naturalistischer, das Moment der Verwandlung, der Verflüssigung und des Vexierbildhaften ist bei ihm nicht so stark ausgebildet wie bei Dalí.

Weitere surrealistische Gemälde Heckroths, zum Beispiel „Nina“ (Abb. 3) und „Free Love“ (Abb. 4) aus dem Jahr 1939, sind Querformate, bei denen der Maler fantastische Figurinen und fragile Gerüste zu skurrilen Kompositionen, wie auf einer Bühne, arrangiert. Im Hintergrund erstrecken sich auch hier karge Landschaftspanoramen, in „Free Love“ in bläulicher Luftperspektive gemalt, einer Kulissenmalerei im Theater vergleichbar. Tatsächlich scheint Heckroth sowohl in der Motivik als auch in der Gesamtanlage an frühere Bühnenentwürfe anzuknüpfen, so zum Beispiel an eine Küstenlandschaft für die Inszenierung von „Die verlassene Ariadne“ (Darius Milhaud) am Stadttheater Chemnitz, von der sich eine 1932 datierte Bleistiftskizze erhalten hat.[16]

3  Hein Heckroth, Nina, 1939, Öl auf Leinwand, 76,5 × 101,5 cm, Frankfurt am Main, Historisches Museum

4  Hein Heckroth, Free Love, 1939, Öl auf Leinwand, 76,3 × 101,2 cm, Privatbesitz

Auch von Salvador Dalí gibt es aus den 1930er Jahren mehrere Darstellungen von Küstenlandschaften, die als bizarre Schauplätze der Begegnung hybrider Figuren und Gegenstände vor Augen treten.[17] Die für Dalí typische Verrätselung binnen- und tiefenräumlicher – und damit auch narrativer – Zusammenhänge findet sich vereinzelt auch in Heckroths Werk, zum Beispiel in seinem Gemälde „Seelandschaft“ von 1940 (Abb. 5). Hier gibt er das im konventionellen Sinn Bühnenhafte auf zugunsten einer integrierten Darstellung, die alle Bildebenen miteinander verknüpft und unseren Blick zu einer Reise voller Wahrnehmungsrätsel einlädt.

5  Hein Heckroth, Seelandschaft, 1940, Öl auf Malkarton, 44 × 55,5 cm, Museumslandschaft Hessen Kassel, Neue Galerie

Bald nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde Hein Heckroth in Großbritannien als „feindlicher Ausländer“ eingestuft und nach Australien deportiert. Im Juli 1940 legte das Militärschiff „Dunera“ in Liverpool ab, um mehr als 2500 enemy aliens im Lager Hay in New South Wales zu internieren.[18] Als einer der später sogenannten „Dunera Boys“ erlebte Heckroth somit eine weitere Exil-Situation, die er offenbar produktiv zu nutzen wusste, denn auch aus der Zeit im australischen Internierungslager (1940-41) haben sich künstlerische Arbeiten erhalten. Sie zeigen Heckroths fortgesetzte Auseinandersetzung mit dem Surrealismus.

Ein bemerkenswertes Beispiel ist das Gemälde „Surreale Landschaft“, heute im Besitz der Nationalgalerie von Australien in Canberra.[19] Das zentrale Motiv des Vogels bzw. der Vögel und die zeichnerischen Elemente im Vordergrund erinnern an Arbeiten von Max Ernst, der wiederum just in dieser Zeit, 1940/41, nach der französischen Internierung ins Exil in die Vereinigten Staaten floh.

Nach eigener Aussage führte Heckroth während der Zeit in Australien ein „illustrated diary“, das er nach seiner Rückkehr nach London dem befreundeten Maler und Kunstsammler Robert Penrose überlassen habe und das seither als verschollen gilt.[20] Ein kürzlich in einer US-amerikanischen Privatsammlung aufgetauchtes Konvolut von Zeichnungen Heckroths könnte dieses Tagebuch – oder ein Teil davon – sein. Es konnte bislang nur fragmentarisch erschlossen werden, enthält aber mehrere surrealistische Arbeiten, die sowohl das Thema der Küstenlandschaft als auch das Motiv des fragmentierten respektive hybriden Körpers in der Art von Max Ernst oder auch Pablo Picasso aufgreifen.

Schon im Herbst 1940 hatte die britische Regierung sich für ihre undifferenzierte Internierungspolitik entschuldigt und entließ im Laufe des Folgejahres vor allem die nun als refugee aliens geltenden Ausländer aus der Internierung in Australien. Zu diesem Kurswechsel hatte sicher auch der Protest namhafter Persönlichkeiten aus der britischen Kunst- und Kulturszene beigetragen. Ob für die relativ frühe Rückkehr Heckroths tatsächlich eine persönliche Intervention von Herbert Read, Roland Penrose und Kenneth Clark, des Direktors der Londoner National Gallery, ausschlaggebend war,[21] muss noch durch Quellenstudium überprüft werden. Sicher ist, dass Heckroth 1941 nach London zurückkehrte, und sicher ist auch, dass dort im Frühjahr 1943 in der privat geführten Modern Art Gallery eine Ausstellung mit dem Titel „Surrealist Paintings by Hein Heckroth“ stattfand.[22] Das Vorwort für den schmalen Ausstellungsflyer hatte Herbert Read, der Nestor des Surrealismus in Großbritannien,[23] verfasst, was einem Ritterschlag für den Maler und den von ihm beschrittenen künstlerischen Weg gleichkam. Welche Arbeiten Heckroths 1943 in der Modern Art Gallery gezeigt wurden, konnte bislang nicht rekonstruiert werden. Bald darauf erfolgte sein Einstieg ins Filmgeschäft, zunächst mit Kostümentwürfen für Gabriel Pascals „Caesar and Cleopatra“ (1945), dann als regelmäßiger Mitarbeiter der Produktionsfirma The Archers.

Im Rückblick auf sein malerisches Werk fallen die roten Schuhe der weiblichen Figurine in Heckroths Gemälde „Free Love“ (1938, Abb. 4) ins Auge. Eventuell hatte Heckroth sich schon vor der Arbeit an „The Red Shoes“ mit der literarischen Vorlage Hans Christian Andersens beschäftigt und das Märchen als surrealistischen Stoff verstanden und verarbeitet. An dieser Stelle erhebt sich die weiter ausgreifende Frage (die hier nicht mehr verfolgt werden kann), inwieweit und inwiefern Heckroths Malerei seine Kostüm- und Bühnenentwürfe für den Film präformierte. Dabei wäre zu unterscheiden zwischen bildkünstlerischen Planskizzen (Abb. 6) und dem tatsächlich realisierten Film bzw. zwischen stehenden und bewegten Bildern. Die technischen Möglichkeiten des Films erlaubten es Heckroth aber auch, sich von der Figuration zu lösen und in eine farbintensive Abstraktion vorzustoßen, die sich in seiner freien Malerei erst Jahre später entfalten sollte.

6  Hein Heckroth, Storyboard für „The Red Shoes‟, 1946/47, Austin, The University of Texas, Harry Ransom Center, Coll. Edward Carrick

Hein Heckroth war keineswegs der einzige Surrealist, dessen fantastische Traumlandschaften, monströse Gestalten und skurrile Arrangements für den kommerziellen Spielfilm adaptiert bzw. von der Filmindustrie nachgefragt wurden. Erneut muss hier als Vorreiter Salvador Dalí genannt werden, der nicht nur mit dem surrealistischen Regisseur Luis Buñuel, sondern seit den frühen 1940er Jahren auch mit Alfred Hitchcock, Archie Mayo und Walt Disney, also mit prägenden Akteuren des Hollywood-Kinos, zusammenarbeitete.[24] Beispielhaft sei hier eine jüngst im Kunsthandel aufgetauchte Ölskizze von Dalí angeführt, die der Künstler für eine Alptraumsequenz in Archie Mayos Film „Moontide“ (1942) anfertigte.[25] Hier verbinden sich literarische Leitmotive des Surrealismus – eine Nähmaschine und Schirme – zu einer bizarren Szenerie, die in ihrer Gesamtheit wie ein Bühnenbildentwurf anmutet.

1946 – als Heckroth in die Arbeit für „The Red Shoes“ vertieft war – arbeitete Dalí mit Walt Disney an einem Zeichentrickfilm mit dem Titel „Destino“.[26] Im Fokus auch dieser Erzählung steht eine junge Frau, die durch ständig in Veränderung begriffene Landschaften und Architekturen tanzt und dabei selbst vielfache Metamorphosen durchlebt. In einer Szene nimmt der Kopf der Tänzerin die Form einer Pusteblume an, deren Flugsamen sich im Raum verteilen. Vergleichbare Metamorphosen, aber auch Sinnbilder der Auflösung und der Verschmelzung von Figur und Raum sind in der ausgedehnten Tanzsequenz von „The Red Shoes“ zu finden. Unter anderem verwandeln sich Vicky und zwei andere Ballerinen zuerst in Blumen, dann in Vögel. Der eigentlich innovative Schub in Heckroths Filmgestaltung bestand jedoch darin, seine Hauptfigur durch eine mehr oder minder abstrakte, nicht erzählbare Abfolge fantastischer Räume tanzen, laufen und fallen zu lassen (Abb. 7 und 8). Wir erhalten so Einblick in ein komplexes Innenleben, spüren die Vitalität, Lust und Hingabe einer Tänzerin, die über weite Strecken des Films eher ein Spielball männlicher Fantasien und Konkurrenzen zu sein scheint.  

The Red Shoes, Großbritannien 1948 (Filmstill)

The Red Shoes, Großbritannien 1948 (Filmstill)

[1] Zu Hein Heckroths Rolle als Produktionsdesigner von „The Red Shoes“ vgl. Nannette Aldred, „Hein Heckroth in England“, in: Hein Heckroth: Film-Designer (Schriftenreihe des Deutschen Filmmuseums, 7, hg. von Hilmar Hoffmann und Walter Schobert), Frankfurt am Main 1991, S. 23-32; s. a. die englische Fassung des Aufsatzes von Nannette Aldred, „Hein Heckroth and The Archers“, in: The Cinema of Michael Powell. International Perspectives on an English Film-Maker, hg. von Ian Christie und Andrew Moor, London 2005, S. 187-206; Henning Engelke u. Tobias Hochscherf, „Colour Magic at Pinewood: Hein Heckroth, The Archers and Avantgarde Production Design in The Red Shoes (1948)“, in: Journal of Design History 28, Nr. 1 (2014), S. 48-66. Zur Narration und Ästhetik des Films siehe auch Adrienne L. McLean, „The Red Shoes Revisited“, in: Dance Chronicle, 11, Nr. 1 (1988), S. 31-83; sowie dies., „If You Can Disregard the Plot. The Red Shoes in an American Context“, in: dies., Dying Swans and Madmen. Ballet, the Body, and Narrative Cinema, Rutgers University Press 2008, S. 133-171. – Zur Biographie und zum Werk von Hein Heckroth siehe: Dietlind Stürz, Hein Heckroth 1901-1970. Aus Leben und Werk, Gießen 1998; Hein Heckroth: Film-Designer, Frankfurt am Main 1991; Hein Heckroth, hg. vom Frankfurter Kunstverein, AK Frankfurt, Frankfurt 1970.

[2] Siehe dazu E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ (1816). Die Bezüge von Romantik und Surrealismus sind in Literatur und bildender Kunst vielfältig.

[3] Vgl. Marianne Kröger, „Ein Nachruf auf Ada Heckroth“, in: Schwarzer Faden. Vierteljahresschrift für Lust und Freiheit, 16/1 (1995), Nr. 52, S. 50-51.

[4] Zu Kurt Jooss und seiner Ballettgruppe vgl. Suzanne K. Walther, The Dance of Death. Kurt Jooss and the Weimar Years, Chur: Harwood Academic Publishers 1994. Walther erwähnt die produktive Zusammenarbeit von Jooss und Heckroth bei mehreren Aufführungen, ohne diese näher zu beschreiben oder zu interpretieren.

[5] Carl Einstein, „André Masson, eine ethnologische Untersuchung“, in: Carl Einstein. Werke, Band 3, hg. von Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1996, S. 539-543, hier S. 539. Der französische Originaltext (ebd., S. 25-29) wurde 1929 in Documents (Nr. 2, S. 93-102) publiziert.

[6] Siehe auch Einsteins Vortrag über „Probleme heutiger Malerei“, den er Anfang 1931 in der Staatlichen Kunstbibliothek in Berlin hielt. Vgl. Carl Einstein, Existenz und Ästhetik, Einführung mit einem Anhang unveröffentlichter Nachlasstexte von Sibylle Penkert, Wiesbaden 1970, S. 51-61.

[7] Hein Heckroth, Clown mit Zweimaster, 1935 (?), Öl/Pappe, 93,5 x 63,5 cm, Historisches Museum, Frankfurt am Main. Abb. in Stürz 1998, S. 24. Das Gemälde wird von Dietlind Stürz ohne weitere Begründung auf das Jahr 1935 datiert. Vgl. ebd.

[8] Vgl. Walther 1994, S. 91.

[9] Die Ausstellung dauerte vom 11. Juni bis zum 4. Juli 1936. Die Organisatoren waren Humphrey Jennings, Henry Moore, Herbert Read, Roland Penrose, David Gascoyne, Diana Brinton Lee, Hugh Sykes Davies, Rupert Lee, Paul Nash, E. L. T. Mesens, André Breton, Paul Éluard, Man Ray und Georges Hugnet. Für den Katalog (www.romanianculture.org/downloads/Surrealism%20Catalogue.pdf) hatten Breton und Read einleitende Texte verfasst.

[10] Zur Bedeutung des Surrealismus und der Ausstellung für die englische Kunst vgl. Daniel Moore, „A Transformed World‘: Herbert Read, British Surrealism and the Institutionalisation of Modernism“, in: ders., Insane Acquaintances. Visual Modernism and Public Taste in Britain. 1910-1951, Oxford University Press 2020, S. 121-149; Herbert Read, „A Nest of Gentle Artists (1962)“, und Judith Collins, „Postlude. ‘An Event of Some Importance in the History of English Art‘“, in: Herbert Read. British Vision of World Art, hg. von Benedict Read und David Thistlewood, AK Leeds City Art Galleries, London 1993, S. 59-63 und 63-71.

[11] Vgl. Aldred, Hein Heckroth in England, 1991, S. 23-24.

[12] Auffällig ist die auf ein Gestänge über einer Art Schlüsselgriff montierte doppelte Ohrmuschel, die auch in einer Zeichnung Heckroths („Listen to me“, 52 x 43 cm, Privatsammlung, vgl. Hein Heckroth 1970, Abb. 131) aus dem Jahr 1938 auftaucht.

[13] Grundlegend zu Edgar Ende ist die Arbeit von Axel Hinrich Murken, Edgar Ende. Sein Leben und sein Werk (1901-1965). Seine kunsthistorische Stellung in der Malerei des 20. Jahrhunderts, Herzogenrath: Verlag Murken-Altrogge 2001. Siehe auch die offizielle Website des Künstlers: https://edgarende.de.

[14] Edgar Ende, Unter der Konsole, 1933, Öl/Lw., 70,5 x 90,5 cm , Frankfurt am Main, Städel Museum / Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie. Vgl. Murken 2001, S. 362.

[15] Salvator Dalí, “Porträt von Paul Éluard”, 1929, Öl/Karton, 33 x 25 cm, Privatsammlung,

© Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí, Figueres, 2004,

https://www.salvador-dali.org/en/artwork/catalogue-raisonne-paintings/obra/233/portrait-of-paul-eluard.

[16] Vgl. Hein Heckroth 1970, Abb. 23a (Bleistift, 44,4 x 64,4 cm, Institut für Theaterwissenschaft der Universität Köln).

[17] Siehe z. B. Salvador Dalí, Three Young Surrealist Women Holding in Their Arms the Skins of an Orchestra, 1936, Öl/Lw., 53 x 65 cm, The Dalí Museum, St. Petersburg (Florida, USA); Enchanted Beach with Three Fluid Graces, 1938; Das Rätsel Hitlers, 1937 u. a.

[18] Vgl.: https://www.nma.gov.au/defining-moments/resources/dunera-boys; https://www.duneraassociation.com; https://www.dunerastories.monash.edu. Siehe auch die von Michael Powell referierten Aussagen Heckroths zu seiner Internierung in Australien: Michael Powell, A Life in Movies. An Autobiography, New York 1987, S. 665-667.

[19] Die Tafel ist beidseitig bemalt und zeigt auf der Rückseite ein Interieur mit weiblichem Akt. Ein weiteres Gemälde Heckroths im Besitz der National Gallery of Australia in Canberra trägt den Titel „Australien“ (1941, Öl/Hartfaserplatte, 47 x 59 cm). Vgl. die entsprechenden Einträge auf der Website des Museums: https://searchthecollection.nga.gov.au.

[20] Vgl. Powell 1987, S. 666.

[21] Vgl. Stürz 1998, S. 29.

[22] Die Ausstellung lief vom 29. April bis zum 26. Mai 1943 und hieß mit ganzem Titel: „Surrealist Paintings by Hein Heckroth and Paintings by Famous 19th & 20th Century English and French Impressionists“.

[23] Zu Herbert Read vgl. Benedict Read u. David Thistlewood (Hg.), Herbert Read. A British Vision of World Art, AK Leeds City Art Galleries 1993.

[24] Vgl. Dalí & Film, hg. von Matthew Gale, AK Tate Modern, London u. a., London 2007.

[25] Salvador Dalí, Machine à coudre avec parapluies dans un paysage surréaliste / Nähmaschine mit Regenschirmen in einer surrealistischen Landschaft, 1941, Öl/Holz, 22,5 x 33,3 cm, Kunsthandel. Zu „Moontide“ vgl. ebd., S. 164-173.

[26] Vgl. ebd., S. 186-201. David A. Bossert, Dali and Disney: Destino. The Story, Artwork, and Friendship Behind the Legendary Film, Disney Editions 2015.


LAUDATIO AUF olaf altmann

Oliver Reese
Intendant des Berliner Ensembles

Lieber Olim!

Sehr geehrte Damen und Herren!

Olaf Altmann ist ein strenger Mann. Und ein ziemlich radikaler Künstler. Mit ihm hat sich Bühnenbild entschieden von jeder Dekorationshaftigkeit verabschiedet. Altmann be-bildert nicht, wirklich gar nicht, auch wenn in und mit seinen Räumen durchaus starke Bilder entstehen. Altmann bebildert nicht, und er stattet auch nicht aus – Olaf Altmann denkt ein Stück. Er macht Kernbohrungen am Text. Ja, Sie haben richtig gehört – am Text. Denn Altmann ist auch ein Traditionalist, seine Radikalität ist nicht die des Bildersturms oder des Traditionsbruches, sondern der Konsequenz. 

Ein Stück – und dann einen Raum – denken also.

Die Forderungen begreifen, die ein Stück stellt, am liebsten unerfüllbare Forderungen, seien sie von Heinrich von Kleist oder Elfriede Jelinek, sei es Penthesilea, Faust II oder manchmal auch ein Tausend-Seiten-Roman von Littell – es muss doch den einen großen Gedanken geben, wir sind am Theater, auf diesen einfachen Brettern soll am Ende etwas stehen, das muss gar nicht kompliziert sein, am liebsten schlagend einfach, beschreibbar in ein, zwei Sätzen. Aber doch noch nie so gesehen. Und manchmal auch so un-möglich wie nur eine Computer-Animation, ja eine Bühne, aber vielleicht auf den Kopf gestellt oder in die extremste Schräglage gebracht – geht denn das überhaupt? Kann man das denn bauen und kann man das überhaupt bespielen? 

Das Ergebnis dieser analytischen Arbeit jedenfalls gewinnt zusätzliche Schärfe und Genauigkeit, indem es für den ganz konkreten Ort zugespitzt wird, an dem eine Inszenierung jeweils stattfindet. Wie ich es bei kaum einer anderen Bühnenbildnerin, keinem anderen Bühnenbildner erlebt habe, ist Olaf Altmann geradezu versessen auf die Eckpunkte, die Gegebenheiten und Grundkoordinaten, die ein vorhandener Bühnen- und Zuschauerraum, eine Theaterarchitektur ihm als Rahmen setzt. Und am liebsten natürlich die extremen Bauten, als zusätzliche Herausforderung, als so etwas wie eine persönliche Provokation durch eine Raumvorgabe. Lieblingsbühnen, das waren eben oft gerade die, die eine Tücke hatten, also etwa das Deutsche Theater in Berlin mit seinem relativ engen Portal, hinter dem sich die Bühne wie eine 8 dem Zuschauerraum gegenüber hin ergänzt, und dazu auch noch ein weißer Rundhorizont als Abschluss.

Bloß nicht begradigen, bloß nicht in klassisches Bühnenschwarz wegmalern, versuchte Altmann bestimmte Neuerungsideen zu verhindern. 

Oder das Frankfurter Schauspiel mit seinen überdimensionierten 24 Metern Portalbreite, die so vielen Theatermachern Angst machten.

Altmann kriegte dieses Fußballfeld von einem Theater, statt wie andere es mit Verzwergung hilflos zu versuchen, gerade durch einen zusätzlichen Aufriss, manchmal bis auf die Hinterbühne, grandios in den Griff. Und so sähe eine Bühne für ein und dasselbe Stück, bei ein und demselben Altmann, in Wien anders aus als in Berlin, in Düsseldorf tatsächlich anders als Dresden.

Eine Bemerkung in Klammern: Altmann beherrscht furchtbar viel Handwerk. Das macht ihn so hochgeachtet gerade bei den Technikern und Bühnenmeistern, die alles Mögliche für ihn tun würden – übrigens auch hinterm Rücken des Intendanten, wie ich in Frankfurt ein paar Mal halb leid-, halb lustvoll erfahren durfte. Seine Argumente waren vermeintlich technischer Natur, die Techniker hatten prompt ein Einsehen, machten möglich – und das Ergebnis war natürlich ein Sieg der Ästhetik über den (zugegeben Geld und Aufbauzeit sparen wollenden) Intendantenpragmatismus.

Es war noch nicht die Rede von den Regisseuren – hier gibt es nichts zu gendern, die wichtigsten Partner in Altmanns Arbeit waren Männer. Und da muss neben Armin Petras, mit dem er vor allem textästhetisches Neuland betreten hat, oder Stefan Bachmann, mit dem er jüngst wieder zu Theatertreffen-Ehren gelangt ist, zuallererst von Michael Thalheimer die Rede sein. Die Zusammenarbeit mit diesem, seinem Ur-Regisseur, begann vor hundert Jahren in Chemnitz, war viele Jahre ganz exklusiv, beiderseits, und hat bis heute kein Ende gefunden.

Zwei junge Hunde in der sogenannten Provinz. Der eine, ein nicht so erfolgreicher Schauspieler (entschuldige, Micha, aber du kannst das verschmerzen), der andere, ein – so stelle ich mir vor – noch nicht so glücklicher, gerade eben erst der Brot-Arbeit als Bühnentechniker Entkommender, beschließen, bei der ersten Regie unbedingt schon zusammenzuarbeiten, auf der kleinsten Spielstätte, einer Probebühne. Und in raschen Schritten geht es über Senftenberg nach Basel, Leipzig, Dresden, dann schon Hamburg und rasch Berlin. Der gemeinsame 3sat-Preis des Theatertreffens. Und dann immer wieder Berlin.

Man stellt sich die Arbeit von Regisseur und Bühnenbildner gern als ein Geben und Nehmen, ein gemeinsames Vor und Zurück, als langwieriges Verhandeln vor. 

Mit Olaf Altmann geht das so nicht. 

Und eine nicht so starke Regie kann daran verzweifeln. (Auch das habe ich mit ansehen müssen.)

Der Ur-Kern des kongenialen Zusammentreffens von Ideen findet jedenfalls am liebsten an geheimen Orten, mit geheimen Getränken und ohne Zeugen statt. Am Ende, oft nach nur einer dieser Sessions, gibt es eine ästhetisch-inhaltliche Setzung, eine Raumforderung, die dann an ein Theater gestellt wird, und eine Herausforderung, an der der Regisseur sich Szene für Szene abarbeiten muss. Meist erweist sich diese Forderung – aber das kann Probenwochen dauern! – als Schlüssel zur Inszenierung.

Als wir an „Faust“ arbeiteten und ich als Dramaturg brav eine Analyse vorbereitet hatte, welche Handlungsorte in welcher Abfolge das Stück bestimmen, sagte Olim nach einigem Schweigen – also mich interessiert eigentlich nur Gretchens Zimmer. Danach konnte ich meine Zettel einpacken – und tatsächlich war in der fertigen Inszenierung des ersten Faust-Teils dann nur ein magischer Raum zu sehen – oder besser: lange Zeit nicht zu sehen. So lange nicht zu sehen, wie Faust, in dessen Kopf wir uns befanden, ihn selber nicht sehen konnte, den Ort der Sehnsucht und das Ziel allen Begehrens. Dieser Raum war umstellt von portalhohen Lamellenwänden, die auf der Drehscheibe unablässig gedreht wurden … wie der Projektor eines gigantischen Schwarzfilms … wie Fausts verzweifeltes Gelehrtenleben, ehe er (mit Hilfe des Teufels) einen Schritt vor die eigene Tür machen konnte – und als mit Gretchens Erscheinen endlich alle Türen verschwanden, wurde eben dieser eine Raum offenbar, der nur von zwei Dingen bestimmt wurde – einem Kruzifix – und einem Bett. 

Ein Kruzifix übrigens, das durch eine winzige Drehung vollends seine Kreuzgestalt verlor. So wie Gretchen ihren Glauben. 

Was ist ein radikales Bühnenbild? 

Zum Beispiel das für die „Orestie“ am Deutschen Theater, bei dem nicht nur der eigentliche Bühnenraum unbespielt gelassen wurde, das hat es ja schon öfter gegeben …

Nein, die Bauholzwand, vor und auf der sich das ganze Panorama dieses Ur-Stückes unserer abendländischen Dramatik ereignen sollten, stand einfach mitten im Zuschauerraum, ungefähr in Reihe 6. Eine Verweigerungsgeste. Roh, brachial, unbehaust, eine Bühnenbildverweigerung, die für das Theater dennoch einen Riesenaufbau bedeutete. Eine Sitzplankatastrophe, aber ein Bild am Ende, als hätte ein Gott einen Keil in diesen bürgerlichen Saal gerammt. 

Und diese Wand, auf die im Laufe des Abends zighundert Liter Blut niedergingen, wurde keineswegs ordentlich und theaterkonventionell für jede Vorstellung wieder frisch hergerichtet, nein – das Blut der Generationen, das Blut des ewigen Fluchs, es klebte bereits von all den Proben bei der Premiere da, ein gigantisches, als Abfallprodukt entstandenes Action Painting.

Später, am Schauspiel Frankfurt, machte Altmann dann das Gegenteil: In der ebenfalls zum Theatertreffen eingeladenen Thalheimer-Inszenierung der „Medea“ erschien der riesige, tiefschwarze Bühnenraum, vor dem sich ächzend der Eiserne Vorhang hob, mit einem einsamen Schlaglicht zunächst unendlich leer. Und erst für den Auftritt der Medea eröffnete der zweite Eiserne Vorhang, der die Hinterbühne abtrennt, endlich einen Blick auf die dahinter aufragende schwarze Wand – das „Bühnenbild“– , auf der Medea kauern wie toben sollte – bis zu dem Moment, bei dem ich verlässlich jedes Mal Gänsehaut bekomme, wenn ich die Aufführung sehe. Nach eineinhalb Spielstunden bewegt sich diese so unverrückbar in die Tiefe des Raumes versetzte Rückwand plötzlich! Wie der Wald von Birnam! Und fährt, von magischer Hand bewegt, aus ihrer Position, 24 Meter von der ersten Reihe entfernt, bis auf den schmalstmöglichen Steg von 40 Zentimetern an die Zuschauer heran. Herzstillstand! Ganz einfach. Sehr groß. 

Einen Text bis zu seinem Kern denken – Olaf Altmanns vielleicht berühmteste Bühne, er ist nicht umsonst zum Bühnenbildner des Jahres dafür gewählt worden, „Die Ratten“, wieder Thalheimer am Deutschen Theater, dieses theatrale Opus magnum des Naturalismus, spielend auf den verschiedenen Geschossebenen eines Berliner Mietshauses, vom Dachboden bis zum Keller. Der Dramaturg verzichtet auf die Zimmer-Liste.

Die Altmannsche Setzung, sie war so einfach, dass sie sich tatsächlich in dem einen Satz zusammenfassen lässt: Diesen Menschen war doch längst ihre Würde genommen, ihr Menschsein. Der Bühnenraum war ausgestellt hoch aufgebaut, aber in sich nicht hoch genug, um darin zu stehen. 

Geduckt geschahen alle Auftritte, bis zum schmalen Grat an der hoch gelegten Rampenkante, an die sich alle Schauspieler quetschten, dabei wie um den aufrechten Gang für ihre Figuren kämpfend. 

Ich würde gern noch weiter schwärmen – von Altmanns Raum für Elfriede Jelineks „Winterreise“ etwa, der nur von angeseilten Schauspielern betreten bzw. erklommen werden konnte, denn die Spielfläche war so steil wie die Eiger-Nordwand. Kaum zu glauben, aber so hat das tatsächlich, in der Regie von Stefan Bachmann, am Wiener Akademietheater stattgefunden! Eine Zumutung!

Aber bitte glauben Sie mir – die Schauspielerinnen und Schauspieler, die mit Altmanns Zumutungen konfrontiert werden, LIEBEN es zumeist, mit ihren Mitteln die bildnerische Herausforderung anzunehmen und einen darstellerischen Widerpart zu bilden. Und Olaf Altmann liebt, ohne dass er darüber zu viele Worte machen würde, die Schauspielerinnen und Schauspieler, die er nur scheinbar mit seinen Räumen bekämpft. In Wirklichkeit schafft er ihnen die bestdenkbaren Startrampen.

Am Ende haben beide gewonnen. 

Lieber Olim – ich bewundere deine Arbeit, ich freue mich auf den nächsten deiner Räume für „Draußen vor der Tür“ – für das von dir, ich weiß es, noch nicht ganz so geliebte Berliner Ensemble – aber das kommt schon noch, es muss ja nicht immer Liebe auf den ersten Blick sein – 

Und ich gratuliere dir von Herzen zum – sagte ich das eigentlich schon? – total und hochverdienten Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis 2021.


Euripides: MEDEA, Bühne: Olaf Altmann, Regie: Michael Thalheimer, Premiere: 14.04.2012
Schauspiel Frankfurt

VERLEIHUNG DES HEIN-HECKROTH-BÜHNENBILDPREISES 2021 AN olaf Altmann

Dr. Christoph Ullrich
Regierungspräsident des Regierungsbezirks Gießen

Dr. Marcus Kiefer, Olaf Altmann, Regierungspräsident Dr. Christoph Ullrich

Sehr geehrter Herr Altmann,

nach dieser wunderbaren Laudatio darf ich Ihnen nun den Preis verleihen und den Text der Urkunde verlesen:

„Die Hein-Heckroth-Gesellschaft Gießen e. V. verleiht den vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst gestifteten Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis 2021 an Olaf Altmann in Anerkennung der herausragenden künstlerischen Qualität seiner bühnenbildnerischen Arbeit.“ 

Zur Begründung der Preisvergabe zitiert die Urkunde Katrin Brack, die Hein-Heckroth-Bühnenbildpreisträgerin des Jahres 2019: 

„Olaf Altmann erschafft mit einfachen Mitteln selbstbewusste, starke Räume. Seine Ideen prägen eine Aufführung, immer stehen jedoch die Schauspielerinnen und Schauspieler im Mittelpunkt.“

Lieber Herr Altmann, ich gratuliere Ihnen herzlich zu diesem wunderbaren Preis!


DANK FÜR DIE VERLEIHUNG DES HECKROTH-PREISES UND LAUDATIO AUF FÖRDERPREISTRÄGERIN
SABRINA ROX

Olaf Altmann

Editorische Notiz: Olaf Altmann hat für seine Dankesrede und die Laudatio auf Sabrina Rox kein ausgefeiltes Redemanuskript verwendet, sondern die passenden Formulierungen spontan und frei gewählt. Der vorliegende Redetext beruht auf der Verschriftlichung einer Audiodatei. Der gesprochene Text wurde möglichst wortgenau transkribiert und dabei geringfügig gekürzt und sprachlich leicht geglättet.


Meine Damen und Herren,

wer ein guter Bühnenbildner ist, muss ja nicht unbedingt ein guter Redner sein. Mit diesem Sprüchlein habe ich versucht, mein Lampenfieber zu bekämpfen, von dem ich als Bühnenbilder ja sonst glücklicherweise verschont bleibe, weil andere, die wunderbaren Schauspieler, auf der Bühne stehen müssen. Ich habe mir Hilfe geholt im Fernsehen und Preisverleihungen angeschaut und dabei festgestellt, dass man dankbar sein muss, wenn man hier steht, aber „muss“ ist der falsche Ausdruck – es kommt ja von Herzen. 

Zuerst bedanke ich mich bei Ihnen, dass Sie in solch großer Zahl hier sind, am Sonntagvormittag, dem schönsten Vormittag der Woche. Bei mir zu Hause würde jetzt wohl gerade der erste Kaffeeduft durch die Wohnung ziehen. Wunderbar, dass sie alle gekommen sind! 

Ich bedanke mich bei Oliver Reese für die wunderschöne Laudatio, aber auch für die Zeit unserer Zusammenarbeit. Es ist jetzt fast auf den Tag genau 20 Jahre her, dass wir „Emilia Galotti“ am Deutschen Theater Berlin gemacht haben – unsere erste Arbeit dort –, und damit begann die fruchtbare und wunderschöne Zusammenarbeit mit Oliver als Chefdramaturg des Deutschen Theaters, dann als Intendant des Deutschen Theaters, des Schauspiels Frankfurt und jetzt des Berliner Ensembles. Oliver hat, glaube ich, unsere Arbeit immer geliebt, bewundert, kritisiert – und er war ein Ermöglicher! 

Wenn ich Ermöglicher sage, dann denke ich an dieser Stelle ganz herzlich und intensiv an zwei weitere große Ermöglicher, die unsere Arbeit gefördert haben. Da wäre zunächst Bernd Wilms zu nennen, der Intendant des Deutschen Theaters in der Zeit, in der Oliver dort Chefdramaturg war. Wilms, der eine Generation älter ist als wir (er könnte mein Vater sein), hat unsere Arbeit, die er nicht immer und am Anfang vor allem nicht immer sofort verstanden hat, dennoch permanent gefördert und ermöglicht. Gerade die „Orestie“, die Sie eben beispielhaft gesehen haben, war für einen Intendanten eine risikofreudige Entscheidung, und ich werde nie vergessen, wie Bernd Wilms damals diese Bühnenbildlösung ermöglicht hat. 

Und der Schritt ist nicht weit zu Ulrich Khuon, der heute Intendant am Deutschen Theater Berlin ist. Auch er gehört zu den Menschen, an die ich jetzt von Herzen denke. Uli Khuon hat uns am Thalia Theater in Hamburg das erste große „Podest“ gegeben, und darauf folgte eine jahrelange Zusammenarbeit dort und auch am Deutschen Theater. 

Und jetzt komme ich zu einer weiteren wichtigen Person. Warum sage ich immer „wir“? Nicht weil ich von mir im Plural spreche, sondern weil ich natürlich stets Michael Thalheimer und mich meine. Eine glückliche Fügung in meinem Leben war, dass Michael sich in den frühen neunziger Jahren dazu entschlossen hat, das Abenteuer auf sich zu nehmen und in den Osten zu gehen und sich in Chemnitz als Schauspieler anstellen zu lassen. Unsere Zeit dort erinnere ich vor allen Dingen in der Weise, dass wir sehr, sehr wütende und zornige Theatermitarbeiter waren – Michael war damals Schauspieler, ich war Bühnenbild-Beginner. Was wir im Theater zu sehen bekamen, fanden wir eigentlich alles – verzeihen Sie das Wort – „Scheiße“! Wir wollten das Theater rund-
erneuern! Und wir wollten Revolution machen! Und wir wollten, dass Theater sexy ist und wie ein Rock-Song ist! 

Chemnitz ist eine Stadt, die nicht ganz so viel Lebensqualität bietet, wie ich finde. Das hat einen großartigen Vorteil: Alle, die am Theater arbeiten, beschäftigen sich ausschließlich mit Theater: entweder auf den Proben oder auf der Bühne oder in den Nächten, in einer der wenigen Bars, die dann noch geöffnet haben. Dort sind wir aufgebrochen – gemeinsam. Und dann, denke ich, ist es uns gelungen – und dafür danke ich Dir, lieber Michael –, unseren Plan umzusetzen und eine neue Ästhetik der Spielweise, des Bühnenbildes und der Herangehensweise überhaupt zu erfinden, die viele unserer Arbeiten heute, glaube ich, unverwechselbar macht. 

Oliver hat es schon erwähnt: Es gab noch zwei andere tolle Männer, die meiner Generation angehören und zu unterschiedlichen Zeitpunkten begonnen haben, meine Arbeitswelt mit vollkommen anderen Herausforderungen, Ästhetiken und Denkweisen zu ergänzen. Gemeint sind Armin Petras und Stefan Bachmann, an die ich heute auch denke. 

Nicht zuletzt möchte ich der Hein-Heckroth-Gesellschaft für diesen wunderbaren Preis danken, der sich dadurch auszeichnet, dass er den Bühnenbildner allein in den Mittelpunkt rückt – im Unterschied zu anderen Preisformaten, die das ganze Regieteam oder Schauspieler ehren. Was mir besonders gut gefällt an diesem Preis – abgesehen davon, dass er sehr nobel dotiert ist –, ist die Ehre, dass man gleichzeitig Kurator ist und einen weiteren Preis vergeben darf: den Förderpreis, und dann zu einem späteren Zeitpunkt den künftigen Hauptpreisträger vorschlagen darf, was eine großartige Aufgabe ist, finde ich.  

Damit sind wir beim Förderpreis und bei Sabrina Rox. Ich bin sehr, sehr traurig, dass sie heute nicht hier ist. Sie hatte eine wichtige Operation, und sie hat sehr lange darum gekämpft, dass sie beizeiten wieder auf den Beinen ist. Sie hat sich sogar, das möchte ich nicht verschweigen, gestern auf die Zugreise von Dresden nach Gießen begeben, musste aber in Berlin umkehren – es ist ein sehr weiter Weg. Vor der Weiterreise und der langen Rückreise von Gießen nach Dresden hat sie kapitulieren müssen. Ich denke jetzt von Herzen an Sabrina, und nun obliegt es mir natürlich, ein wenig davon zu berichten, warum ich sie, und zwar ohne zu zögern, als Förderpreisträgerin benannt habe. 

Wie Sie wissen oder vielleicht auch nicht wissen, kann die Theaterarbeit gelegentlich eine große Qual darstellen. Es ist ja nicht immer so, dass erfolgreiche und wunderschöne Inszenierungen entstehen. Oft ist das Gegenteil der Fall! Es wird am Theater sehr, sehr viel Kraft, Mühe, Initiative und Geld für zahllose Produktionen aufgewendet, um am Ende wenige großartige Inszenierungen zu ermöglichen. Es ist eine Art Pyramide! Es braucht die Qual des Scheiterns – die Trauerarbeit, die unvermeidlich ist, wenn Inszenierungen nicht gelingen –, um dann als Lohn gelegentlich dieses wunderbare, einmalige, unfassbare Gefühl zu verspüren, dass Theaterpublikum und Theatermacher gemeinsam über eine Arbeit glücklich sind! 

Sabrina habe ich leider bei einer Arbeit kennengelernt (sie war meine Assistentin), für die das nicht zutraf! Es war eine unsagbare Quälerei, eine schwierige Zeit! Nun gibt es ja im Theater eine beklagenswert strenge Hierarchie, die es mitunter verunmöglicht, dass bestimmte Gräben zwischen den gestandenen Leuten aus dem Regieteam und den Berufsanfängern – den Assistenten, den Hospitanten – überbrückt werden. Aber im Lauf der Probenzeit wurde uns beiden klar (ohne groß darüber zu sprechen), dass sich unsere Haltung zu dieser Aufführung in nichts unterschied, und als die Zeit endlich überstanden war und die Generalprobe begann, beschlossen wir beide – instinktiv vielleicht –, uns aus dem Umfeld des Regiepults zu entfernen und in eine Loge des ersten Rangs zu gehen, um dort die Generalprobe zu überstehen. Nach ungefähr einer halben Stunde geschah etwas ganz Besonderes, was ich in meinem Leben nie vergessen werde. Ich vertraue Ihnen das jetzt an, obwohl es ein wenig unlauter ist, was sich dort abspielte: Es kam wieder diese Szene, die wir besonders hassten und besonders peinlich fanden; wir schauten uns in die Augen und begannen zu lachen und mussten dieses Lachen natürlich unterdrücken; und das hatte zur Folge – als Kind hat man das ja schon mal erlebt –, dass wir anderthalb Stunden lachen mussten! Ich habe weder vorher noch nachher jemanden gesehen, dem die Tränen so aus den Augen gespritzt sind. Ich hatte am nächsten Tag Muskelkater im Bauch. Dieses gemeinsame Lachen war ein wunderbares Gefühl: ein Gefühl der Befreiung, der Anarchie, so etwas Ungehöriges dennoch zu tun, und das hat, wie Sie sich leicht vorstellen können, eine Vertrauensgrundlage zwischen uns geschaffen, die nicht antastbar ist. 

Die Folge war, dass wir uns auch nach der Arbeit häufiger gesehen haben (Sabrina hatte dafür immer die schöne Wendung: „Wir treffen uns auf Wein und Zigaretten“), und wenn zwei Leute, die am Theater arbeiten, in eine Bar gehen, dann wird – das kann ich Ihnen versprechen – zu hundert Prozent über Theater gesprochen, dann gibt es kein anderes Thema, und bei uns betraf das natürlich insbesondere die Causa Bühnenbild. 

Sabrina hat dann sehr bald einen, wie ich finde, kongenialen Arbeitspartner in Jan Gehler gefunden, der Regieassistent am Schauspiel Dresden war. Im Idealfall sollte genau dies am Theater möglich sein: Die Assistenten lernen sich kennen und erhalten Arbeitsmöglichkeiten, damit aus ihnen ein großartiges Team werden kann.

Dass Sabrina dies geglückt ist, hat mich sehr erfreut, insbesondere weil ich feststellen musste, dass ich als Bühnenbildner ungefähr 97 Prozent Assistentinnen habe (also nur etwa alle fünf Jahre mal einen männlichen Assistenten), aber meine Kolleginnen und Kollegen hauptsächlich aus Kollegen bestehen. Das ist nicht in der richtigen Relation. Da muss dringend etwas getan werden! Auch das war ein wichtiger Grund für mich, Sabrina als Förderpreisträgerin auszuwählen. 

Bevor ich jetzt auf Sabrinas Arbeit zu sprechen komme, muss ich kurz über die grundlegenden temporären Abläufe sprechen, die am Theater in der Organisation notwendig sind. Am Anfang steht der Regisseur, und zwischen ihm, der Dramaturgie und der Theaterleitung findet eine Einigung über den aufzuführenden Theatertext statt. Aber jetzt schon – schon an dieser Stelle! – betritt der Bühnenbildner die Bühne, denn er ist der Erste, der ein künstlerisches Ergebnis abliefern muss! 

Die Organisation im Theater bringt es mit sich, dass etwa ein halbes Jahr oder auch bis zu einem Jahr, bevor die Proben beginnen, der Bühnenbildentwurf stehen muss. Damit die Statiker und Ingenieure den Entwurf in Zeichnungen verwandeln können und dann die Fachleute in den Werkstätten das Bühnenbild bauen können, braucht es diesen Vorlauf. Das heißt, der Bühnenbildner ist der Erste, der einen Pflock einschlägt; er ist der Erste, der das leere Blatt Papier zu füllen und zu beschreiben hat – zu einem Zeitpunkt, wo gelegentlich noch nicht mal eine Strichfassung des Textes da ist, wo nur ein Roman oder eine Kinofilmfassung vorliegt, wo eventuell noch nicht mal eine Besetzung besteht und man höchstens weiß, wer die Hauptrolle spielt. Das heißt, wir Bühnenbildner müssen antizipieren. Wir müssen in die Zukunft denken. Wir müssen an diesen Theatertext, an diese künftige Aufführung denken, während der Regisseur und die Schauspieler noch mit den Proben für vorhergehende Produktionen beschäftigt sind. Wir Bühnenbildner müssen daher ein Stück weit Dramaturg sein. Wir müssen uns auch vorstellen können, Regie zu führen; wir müssen uns vorstellen können, wie ein Regisseur in einem Bühnenbild arbeiten kann. 

Und dieser „Auftrag“ wird meiner Ansicht nach auch heute noch zu wenig verstanden. Das Bühnenbild erscheint in der Wahrnehmung – selbst in der internen Wahrnehmung des Theaters – oft immer noch als etwas, was zuletzt kommt: Es gibt einen Autor, den man möglichst kennen muss; es gibt vielleicht einen bekannten Regisseur; es gibt Schauspieler, die man eventuell schon im Fernsehen oder zumindest auf der Bühne gesehen hat, und irgendwann ist scheinbar ein Bühnenbildner dazugekommen und hat etwas vors Auge gestellt, hat vielleicht Türen eingebaut, die Auftritte ermöglichen, oder ein Sofa hingestellt, auf das man sich setzen kann. Und das zieht nach sich, dass dieser niederträchtige Begriff „Ausstatter“ immer noch – selbst in Feuilletons! – benutzt wird. Wir, Sabrina und ich, sollten dafür kämpfen, dass sich diese Wahrnehmung verändert! Unsere persönliche Beziehung hat sich nicht zuletzt im Gespräch darüber entwickelt, dass Bühnenbildner diese unglaubliche Möglichkeit haben, als Erster tätig zu werden und Vorgaben zu machen, die nachher nicht mehr zu verändern sind, und damit die gesamte Ästhetik eines Theaterabends, die Spielweise zu beeinflussen, also das, was sich bei einer gelungenen Aufführung im Gedächtnis des Publikums festsetzen wird: der Raum im Zusammenspiel mit den Schauspielern. 

Über diese Gespräche hat sich mit Sabrina eine enge Beziehung hergestellt, und dann habe ich mit Freude ihre Arbeiten gesehen. Die erste Arbeit, die ich gesehen habe, war „Tschick“, eine unendlich oft gespielte Erfolgsaufführung in Dresden unter der Regie von Jan Gehler. Und es folgten viele Bühnenbilder, die von diesem Geist sozusagen durchwoben waren, wie Sie auf Sabrinas Internetseite wunderbar feststellen können. Deshalb ist Sabrina meine Förderpreisträgerin, und die würde ich jetzt gern in den Arm nehmen!

Vielen Dank.


VERLEIHUNG DES HEIN-HECKROTH-FÖRDERPREISES 2021 AN SABRINA ROX

Dietlind Grabe-Bolz
Oberbürgermeisterin der Stadt Gießen

Sehr geehrter Herr Dr. Ullrich,

sehr geehrter Herr Dr. Kiefer,

sehr geehrter Herr Altmann,

sehr geehrter Herr Bleier in Vertretung für Frau Rox,

sehr geehrte Damen und Herren,

zur heutigen Preisverleihung des Hein-Heckroth-Bühnenbildpreises sowie des Hein-Heckroth-Förderpreises – einem Glanzpunkt im Kulturleben unserer Stadt mit überregionaler Bedeutung – heiße ich Sie im Namen der Universitätsstadt Gießen sehr herzlich willkommen.

Zunächst möchte ich Ihnen, sehr geehrter Herr Altmann, meinen persönlichen Glückwunsch aussprechen und Ihnen im Namen der Stadt zum Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis 2021 herzlich gratulieren.

Mit der Vergabe des Hein-Heckroth-Preises und des Hein-Heckroth-Förderpreises stellen wir uns als Stadt bewusst in eine für uns historisch verpflichtende Tradition. Als Geburtsort des Bühnenbildners, Malers und Oskar-Preisträgers Hein Heckroth fühlen wir uns besonders ermutigt, die gerade für das Gesamtkunstwerk Theater so wichtige Kunstgattung Bühnen- und Kostümbild in den Blickpunkt der Förderung zu rücken. Mit diesem Beitrag wollen wir an die Leistungen eines wichtigen Sohnes unserer Stadt anknüpfen und als überzeugte Theater-Stadt auch daran erinnern, dass die Gestaltung des Bühnenraumes als künstlerische Leistung in der öffentlichen Wahrnehmung als eigenständige Kunst im Gesamtwerk des Theaters gewürdigt werden soll. 

Die zeitgenössische Szenographie versteht sich dabei weniger als Bühnenbild, sondern vielmehr als Bühnenraum im Sinne eines Kunstraums. Wenn auch in komplexer Wechselbeziehung mit der Regie macht dieser Kunstraum eigene Setzungen und ist – im besten Fall – das Ergebnis künstlerischer Autonomie. 

Theater spielt in Gießen eine herausragende Rolle: Das Stadttheater ist Ausdruck bürgerlichen Gemeinsinns; das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität ist – so könnte man sagen – Kaderschmiede der freien Theaterszene; und ganz grundsätzlich gesprochen ist das Theater ein Ort des gesellschaftlichen Diskurses, der Auseinandersetzung, des Vergnügens und ein Erfahrungsraum der Demokratie, in dem wir darüber reflektieren, wie wir leben und wie wir leben wollen. 

Und genau diesen und andere Orte des kulturellen Erlebens und der Diskurse haben wir – pandemiebedingt – seit geraumer Zeit schmerzlich vermisst und freuen uns umso mehr, dass wir nun wieder analog zusammenkommen können. Denn kein digitales Format kann dieses Zusammenkommen in Präsenz ersetzen.

Die Preisverleihungen der Heckroth-Gesellschaft feiern heute ein Jubiläum: Bereits zum zehnten Mal richtet sich in diesem Jahr das Augenmerk auf die Bühnenbildkunst und wird mit dem Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis die Arbeit eines/-er herausragenden Bühnenbildkünstlers/-in sowie mit dem Förderpreis ein/-e vielversprechender/-e Nachwuchskünstler/-in ausgezeichnet.

Dafür, dass dieser Preis in Gießen ins Leben gerufen wurde und kontinuierlich alle zwei Jahre verliehen wird, geht mein herzlicher Dank an die Hein-Heckroth-Gesellschaft mit ihrem Vorsitzenden Dr. Marcus Kiefer und auch an die Begründerin der Gesellschaft und Ideengeberin dieser Preisverleihung, an Sie, liebe Frau Dietgard Wosimsky. 

Ich danke auch sehr herzlich dem Stadttheater Gießen und seiner Intendantin, Frau Cathérine Miville, dass wir diese feierliche Veranstaltung immer wieder an diesem Ort erleben dürfen, an dem das Bühnenbild lebt.

Für den in der Satzung der Hein-Heckroth-Gesellschaft vorgesehenen Förderpreis, den die Stadt Gießen stiftet und deren Preisträger/-in der/die jeweilige Hauptpreisträger/-in benennt, hat Herr Olaf Altmann Frau Sabrina Rox ausgewählt. 

Es ist mir eine große Freude, Ihnen, sehr geehrter Herrn Bleier, stellvertretend für Sabrina Rox heute im Namen der Universitätsstadt Gießen den Hein-Heckroth-Bühnenbild-Förderpreis 2021 überreichen zu dürfen.

1980 in Brakel geboren, studierte Sabrina Rox zunächst Szenografie bei Colin Walker an der Fachhochschule Hannover. Bereits während ihres Studiums arbeitete sie als Bühnenbildnerin für diverse Kurzfilmproduktionen in Hannover und Lodz. Von 2009 bis 2012 war sie als Bühnenbildassistentin am Staatsschauspiel Dresden engagiert. Seit 2012 ist sie nun als freie Bühnenbildnerin tätig.

Sabrina Rox entwarf beispielsweise die Bühne für die unter der Regie von Jan Gehler vielbeachtete Uraufführung von Wolfgang Herrndorfs „Tschick“, die im Jahr 2012 für den Theaterpreis „FAUST“ nominiert war. Sie arbeitete am Münchner Volkstheater sowie am Thalia Theater Hamburg, am Schauspiel Stuttgart, am Schauspielhaus Bochum und kontinuierlich immer wieder einmal am Düsseldorfer Schauspielhaus und am Staatsschauspiel Dresden. Ihre Bühnenbilder sind sehr kreativ und meist minimalistisch: schiefe Ebenen, monolithische Treppen, diagonale Stufen, ein beengter Raum auf sandigem Untergrund. Bei ihren Bühnenbildern – radikal minimal und mitunter „unbequem“ – ist die darstellerische Leistung der Schauspieler/-innen besonders gefordert. 

Sabrina Rox versteht das Bühnenbild nicht als Raum zum ‚Wohlfühlen‘, vielmehr müssen sich die Akteure/-innen den Raum regelrecht zu eigen machen, sich ihn erobern; dabei lenkt nicht viel vom Gespielten und Gesprochenen ab. Das lässt eine Intensität entstehen, die das Publikum fesselt, stärker in das Geschehen einbezieht und eine Vielzahl an Assoziationen entwickeln lässt. 

Sehr geehrter Herr Bleier, hiermit überreiche ich Ihnen stellvertretend für Frau Rox den Hein-Heckroth-Förderpreis 2021. Er würdigt ihre kreative Schaffenskraft und bringt die Wertschätzung für den von ihr eingeschlagenen bühnenbildnerischen Weg zum Ausdruck. 

Ich wünsche Frau Sabrina Rox weiterhin viel Erfolg und gratuliere ihr sehr herzlich!


dank

Sabrina Rox

Vielen Dank, Frau Grabe-Bolz, und ganz herzlichen Dank an die Hein-Heckroth-Gesellschaft. Ich finde es ganz toll, dass Sie diesen Preis ausloben! Danke an Herrn Kiefer, der sich immer wieder gemeldet hat und Genesungswünsche geschickt hat.

Olaf, es bedeutet mir sehr viel, dass Du mich für diesen Preis vorgeschlagen hast. Wegen Deines „Lulu“-Bühnenbildes 2004 am Thalia in Hamburg habe ich mit Theater angefangen. Ich habe das Gefühl, durch diese eine weiße fahrende Wand überhaupt erst die Möglichkeiten eines Bühnenraumes begriffen zu haben. Als ich Dir dann viele Jahre später immer wieder assistiert habe, habe ich neben allem Künstlerischen etwas für mich noch viel Wichtigeres von Dir gelernt: die Wichtigkeit unseres Berufes und das Selbstbewusstsein, auch so aufzutreten, als autarke Künstlerin, die etwas zu sagen hat. Dafür möchte ich Dir von Herzen danken!

Dank noch an „meine“ Regisseure, an Philipp Lux, Martin Nimz und vor allem an Jan Gehler, mit dem ich seit vielen Jahren in großer Freiheit und Freundschaft arbeiten kann.

Und zum Schluss danke ich ganz besonders meinem Mann, Mathias Bleier.

Olaf Altmann, Oliver Reese

Dr. Kiefer, OB Grabe-Bolz, Bleier, Altmann, Dr. Ruby, RP Dr. Ullrich, Reese

Dr. Marcus Kiefer, Mathias Bleier, Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz

Oliver Reese, Mathias Bleier, Olaf Altmann, Michael Thalheimer


DAGMAR KLEIN 

DEN BÜHNENRAUM DENKEN

Die Erstveröffentlichung des Artikels erfolgte in leicht gekürzter Fassung am 20. September 2021 in der Gießener Allgemeinen Zeitung (GAZ).


Der Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis 2021 ist am Sonntag an Olaf Altmann überreicht worden. Die zehnte Preisverleihung fiel mit dem 20-jährigen Jubiläum der Hein-Heckroth-Gesellschaft zusammen.

Die Corona-Pandemie verursachte nicht nur die Verschiebung der Preisverleihung von April auf Mitte September, sondern auch deutlich ausgedünnte Publikumsreihen. Was jedoch der Qualität der Beiträge und der guten Stimmung keinen Abbruch tat. Vermisst wurde einzig der nachträgliche Sektempfang im Theaterfoyer, der immer Gespräche mit den von weither angereisten Gästen ermöglicht hat.

Für den Vorstand der Hein-Heckroth-Gesellschaft hatte der Vormittag mit Aufregung begonnen, steckte der Musiker doch im Autobahnstau. Aber László Fenyö schaffte es gerade noch rechtzeitig und eröffnete mit seinem Violoncello den Heckroth-Preisverleihungs-Festakt, den Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz als „Highlight im Gießener Kulturleben“ bezeichnete. Nicht geschafft hatte es die Förderpreisträgerin Sabrina Rox, die sich noch in der Genesungsphase nach einer Operation befindet. An ihrer Stelle war Mathias Bleier aus Dresden angereist, um die Ehrung im Namen seiner Frau in Empfang zu nehmen und eine kleine Dankesrede zu halten. Moderiert wurde die Matinée zum wiederholten Mal von Petra Soltau, einst Schauspielerin am Stadttheater Gießen.

HHG-Vorsitzender Marcus Kiefer eröffnete mit wohlgesetzten Worten die Redebeiträge. Neben vielen Danksagungen flocht er auch „Zufallsfäden“ ein: So war eines der ersten Engagements von Hein Heckroth 1932 an den Bühnen Chemnitz. Und von dort stammt der aktuelle Preisträger Olaf Altmann, dort war er vom Bühnentechniker zum Bühnenbildner geworden, hatte Michael Thalheimer kennengelernt und mit ihm seither ein unschlagbares Inszenierungsteam gebildet. 

Regierungspräsident Christoph Ullrich vertrat Ministerpräsident Volker Bouffier und Kulturministerin Angela Dorn, richtete deren Grüße und Glückwünsche zum Jubiläum aus. Der Geschäftsführende Intendant am Stadttheater Gießen, Martin Reulecke, drückte im Namen des gastgebenden Hauses seine Freude über die Veranstaltung aus.

Sigrid Ruby, Professorin für Kunstgeschichte an der JLU, warf einen neuen Blick auf Heckroths Schaffen unter dem Thema „Surrealismus und Exil“. Sie bot eine höchst spannende Reise durch Heckroths bildnerisches Schaffen, bei der wenig bekannte Bildbeispiele gezeigt wurden. Einiges ist in Australien, wohin er während des Krieges von England aus als Ausländer aus einem Feindland deportiert worden war, erst kürzlich aufgetaucht. Der am Institut für Kunstgeschichte geplante Workshop zu Heckroth, der coronabedingt schon zweimal verschoben wurde, soll 2022 stattfinden. Es wird spannend.

Laudator Oliver Reese ist seit kurzem Intendant am Berliner Ensemble, zuvor war er in dieser Funktion am Frankfurter Schauspiel zuständig. Er hielt eine sehr anschauliche Rede, die sich aus persönlichen Erlebnissen speiste, bei der auch geschmunzelt werden durfte, vor allem wenn es um Hierarchien im Theater ging und wie sie unterlaufen werden. Olaf Altmann baue keine Bühnenbilder, analysierte Reese, „er denkt den Bühnenraum“. Was oft provozierend und auch im wörtlichen Sinne unbequem sei.

Wenn Olaf Altmann bei seiner Danksagung Lampenfieber hatte, dann merkte man es ihm nicht an. Auch er gab einige für Außenstehende wundersame Einblicke in die Theaterarbeitswelt. Er betonte, dass Bühnenbildner „oft den ersten Pflock einrammen“ für eine Inszenierung, was kaum bekannt ist und selten genug gewürdigt wird. Gerade an großen Bühnen müsse der Bühnenbildentwurf schon bis zu anderthalb Jahre vor der Inszenierung vorliegen, damit bis zum Probenbeginn alles fertig ist. Den Heckroth-Preis mag er auch deswegen, weil dieser ihm ermöglicht, auch Kurator zu sein. Und er merkte noch an, dass seine Assistenzen zu 97 Prozent weiblich besetzt, aber seine Kollegen allesamt männlich seien. Da gebe es ein deutliches Ungleichgewicht. Die von ihm vorgeschlagene Förderpreisträgerin Sabrina Rox (Dresden) stellte er mit herzlichen Worten vor.

Illustre Runde – Erinnerung an Gießens Oscar-Preisträger

Der Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis ist mit 10.000 Euro dotiert und wird seit 2003 alle zwei Jahre verliehen – ganz im Sinne des aus Gießen stammenden Malers, Bühnenbildners und Oscar-Preisträgers Hein Heckroth (1901–1970). Die bisherigen Preisträger sind Erich Wonder, Karl-Ernst Herrmann, Achim Freyer, Robert Wilson, Christoph Schlingensief, Anna Viebrock, Bert Neumann, Gero Troike und Katrin Brack.


ANDREAS EIKENROTH 

EIN MANN DER GROSSEN RÄUME


Die Erstveröffentlichung des Artikels erfolgte am 21. September 2021 im Gießener Anzeiger (GA).



Einblicke in die Hinterzimmer: Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis im Stadttheater an den Chemnitzer Olaf Altmann verliehen

Mit der zehnten Preisverleihung des Bühnenbildpreises und dem zwanzigjährigen Bestehen der Hein-Heckroth-Gesellschaft wurde am Sonntagvormittag im Stadttheater ein rundes Jubiläum begangen. 

In schwarzem Kleid und, als Reminiszenz an den oscarprämierten Film Heckroths in leuchtend roten Schuhen, führte Petra Soltau durch das Programm. Dem Gießener Theaterpublikum ist die Schauspielerin noch in guter Erinnerung, war sie doch vierundzwanzig Jahre lang festes Mitglied des Ensembles. Der musikalische Rahmen wurde von László Fenyö gestaltet, der zur Weltelite der Cellisten zählt und unter anderem Preisträger des renommierten Franz-Liszt-Preises ist. In Gießen spannte er einen weiten Bogen von Johann Sebastian Bach bis zu Paul Hindemith. Letzterer spielte im Leben Heckroths keine unwichtige Rolle, hat er doch durch seine Freundschaft zu dem Komponisten seine spätere Frau kennengelernt. 

Die rhetorisch pointierte Eröffnungsrede hielt Marcus Kiefer, Vorsitzender der Hein-Heckroth-Gesellschaft, der die Namen der bisherigen Preisträger mit Gedanken zu dem schlecht beleumundeten Begriff des „Provinziellen“ und einer Anekdote von Hugo von Hoffmannsthal verband. Der Dichter sprach in Bezug auf die Salzburger Festspiele lieber von „ungroßstädtisch“, was konkret wohl auch einen Besucher aus Gießen meinte, der eben nicht provinziell daherkomme, sondern eben, viel netter, ungroßstädtisch.

Nach der Begrüßung durch Regierungspräsident Christoph Ullrich, der gestand, zu seiner Studentenzeit Hein Heckroth nur als Namenspatron einer Gießener Straße gekannt zu haben, führte die Kunsthistorikerin Sigrid Ruby in die surrealistischen Bilderwelten Hein Heckroths ein. Sie ließ das Publikum an einem Exkurs teilhaben, der den Bühnenbildner als Maler näherbrachte. Durch seine Verlusterfahrungen im Dritten Reich habe er sich malend inneren Welten zugewandt. Bereits 1933, im Jahr ihrer Machtübernahme, verhängten die Nationalsozialisten ein Malverbot über den Künstler, der daraufhin über Paris, wo er Max Ernst und Kurt Schwitters kennenlernte, nach London emigrierte.

Vergleiche mit Bildern Salvador Dalís und Max Ernsts auf der großen Leinwand im Bühnenportal luden ein, die surrealistische Seite Heckroths zu entdecken. Nach diesem Auftakt hielt der Intendant des Berliner Ensembles, Oliver Reese, seine Laudatio auf Olaf Altmann, den diesjährigen Preisträger des mit 10.000 Euro dotierten Hein-Heck-
roth-Bühnenbildpreises. Der gebürtige Chemnitzer arbeitete zunächst als Techniker im dortigen Stadttheater. In der Nachwendezeit fand er sich mit dem Regisseur Michael Thalheimer zusammen, mit dem er seitdem vermehrt zusammenarbeitete. Mehrere seiner Bühnenbilder wurden schon mit Preisen gewürdigt, zudem erhielt er auch den „Faust“-Theaterpreis. Reese würdigte den Bühnenbildner als radikalen Künstler, der die Theaterräume nicht bebildere oder ausstatte, sondern den vorgegebenen Raum als Herausforderung nutze und die jeweilige Architektur der Theater so mit in das Bühnenbild einfließen lasse. In „geheimen Besprechungen mit geheimen Getränken unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ entstünden, zusammen mit seinem Regisseur, die grundlegenden Gedankengerüste zu den späteren Bühnenbildern, die mit ihrer Raumforderung radikal auf den Punkt gebracht seien. Seine Räume wirkten roh und brachial, ikonisch, einfach und groß. Dadurch würden auch die Schauspieler oft gefordert, die, in einengenden Räumen oder an schrägen Ebenen angebunden, sich besonderen Herausforderungen gegenübergestellt sähen. 

Altmann selbst erklärte nach der Preisübergabe, dass er als Bühnenbildner eigentlich kein guter Redner sein müsse, sich aber zur Vorbereitung im TV ein paar Reden angeschaut habe. Und die Quintessenz sei wohl, sich zu bedanken. Was er dann auch tat, bei seinen Regisseuren, Mitarbeitern und Assistenten sowie Assistentinnen. Denn der ebenfalls vergebene und mit 5000 Euro dotierten Förderpreis ging an Sabrina Rox, die als Assistentin für Altmann arbeitete. Zusammengeschweißt durch einen stundenlangen gemeinsamen Lachanfall während einer Probe zu einer wenig geliebten Produktion schlug Altmann sie für diesen Preis vor. Ihr Weg sei es, mit minimalistischen Räumen, die von den Akteuren erobert werden müssen, zu Assoziationen anzuregen.

Für Altmann soll Theater „sexy und wie ein Rocksong sein“. Er erzählte zudem von den Freuden und der Qual, die ein Stück von den ersten Idee bis zur Premiere begleiten, und plädierte dafür, dass das Wort „Ausstatter“ verschwinden müsse, da es „niederträchtig“ sei. Denn in der öffentlichen Wahrnehmung gehe es zumeist um die Regisseure oder Schauspieler, die Leistung der Bühnenbildner werde hingegen zu selten gewürdigt. 

Da Sabrina Rox krankheitsbedingt nicht an der Preisverleihung teilnehmen konnte, übernahm dies in Vertretung ihr Mann und bedankte sich im Namen von „Roxy“, so ihr Spitzname, für den Preis. Und auch wenn Theaterschaffende sich bisweilen zu „geheimen Besprechungen mit geheimen Getränken unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ treffen, so musste der traditionelle Sektempfang im Anschluss an die Preisverleihung coronabedingt leider ausfallen.


Impressum


Herausgeber: Hein-Heckroth-Gesellschaft Gießen e.V.

Redaktion: Dr. Marcus Kiefer

Gestaltung: UltraVIOLETT Mediendesign, Harald Schätzlein

 

© 2022 für die Texte bei den Autoren

 

Hein-Heckroth-Gesellschaft Gießen e.V.

                        

Abbildungsnachweis

Beitrag Ruby, Abb. 1: Museumslandschaft Hessen Kassel, Foto: Gabriele Bößert; Abb. 2: National Portrait Gallery, London; Abb. 3, 4: Dietlind Stürz, Hein Heckroth 1901-1970, Gießen 1998, S. 72, 73; Abb. 5: Museumslandschaft Hessen Kassel, Foto: Ute Brunzel; Abb. 6: Austin, The University of Texas, Harry Ransom Center; Abb. 7, 8: Archiv der Hein-Heckroth-Gesellschaft Gießen e.V.

MEDEA, Schauspiel Frankfurt, Inszenierungsfotos: Birgit Hupfeld, Bochum

Porträtfotografie Sabrina Rox: Krafft Angerer, Hamburg

Alle übrigen Fotos: Rolf K. Wegst, Buseck


Die schriftliche und fotografische Dokumentation des Festakts wurde von der Sparkasse Gießen großzügig gefördert.

Die Preisverleihung wurde von der Volksbank Mittelhessen großzügig unterstützt.